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E. und die Wahrsagerin

Eines Tages wollte E. alles wissen. Zufällig war zu dieser Zeit gerade ein Zirkus in der Stadt, in der sich E. aufhielt (denn E. wohnte nirgends).

"Heute oder nie", ermunterte er sich und zitterte ein bißchen, denn er wußte, daß eine Wahrsagerin den Zirkus begleitete, "werde ich die Zukunft in ihre Schranken weisen." Er machte sich auf und war schneller, als ihm lieb war, bei den bunten Zirkuswagen angelangt.

"Wo finde ich meine Zukunft?", fragte er den nächstbesten Clown, der ihm über den Weg lief. Der blickte ihn aus seinen großgeschminkten Augen ärgerlich an, sah aber, daß E. ihn ohne Antwort nicht weitergehen lassen würde, und meinte mürrisch: "Immer im Kreise herum. Du wirst sie schon verfehlen."

"Was für ein aufrechter Mensch!", staunte E.. Er drehte sich um, und hinter ihm stand ein kleines, schwarzes Rundzelt, dessen Eingang durch ein blutrotes Tuch verhüllt wurde. E. wußte sofort, daß die Wahrsagerin nur hier und sonst nirgends zu finden war.

"Heute oder nie!", dachte sich E. noch einmal. Als er den Vorhang hinter sich geschlossen hatte, mußten sich seine Augen erst einmal an die im Zelt herrschende Dunkelheit gewöhnen. Dann sah er vor sich einen Rundtisch, auf dem eine kürbisgroße, milchigweiße Kugel stand. Ein mattes, fahles Licht ging von ihr aus. E. hatte immer gedacht, Wahrsagerinnen würden nur klare Kristallkugeln verwenden. Er war irritiert und wußte nicht so recht, wie es jetzt weitergehen sollte.

"Hallo E., da bist du ja endlich!" Aus der Richtung, aus der die Stimme gekommen war, bewegte sich eine hagere Gestalt auf ihn zu. Erschrocken wich E. zurück. Vor ihm stand eine alte Frau mit hängenden Schultern. "Ich habe schon auf dich gewartet. Du kommst spät." Sie nahm an dem Tisch mit der Glaskugel platz.

"Du hast auf mich gewartet?" fragte E. erstaunt.

"Natürlich", antwortete die alte Frau, und etwas belustigt setzte sie hinzu, "nur Menschen wie du kommen zu mir. Was willst du von mir wissen?"

Das war eine Frage, die E. doch wieder unsicher machte - vor allem deswegen, weil die Frau sie in einem sehr bestimmten Ton gestellt hatte. Eigentlich wollte er alles wissen und zugleich nichts wissen. Aber das konnte er der Wahrsagerin wohl nur schwer beibringen. "Also ich ..."

"Schon gut. Du brauchst mir nichts zu erklären und nichts mehr zu sagen, E.." Woher kannte sie bloß seinen Namen?

"Ich habe schon viele wie dich hier gehabt, viel zu viele." Die Wahrsagerin nickte wissend. "Erst die Bezahlung. Ich bin nicht billig. Du weiß, was ich von dir verlange?"

E. wuße es. Er wußte es in dem Moment, in dem ihm die Wahrsagerin die Frage stellte. Er setzte sich an den Tisch. Die alte Frau wurde ihm immer unheimlicher. Ihr strenges, kantiges Gesicht mit den vielen Falten und Narben verzog sich zu einer Grimasse, wurde immer konturenloser. Schließlich war das ganze Gesicht nur noch eine einzige, breiige Masse. Die Wahrsagerin beugte sich übr die Glaskugel, ihre Hände näherten sich der Kugel mehr und mehr, bis Funken von der Kugel zu ihren Fingerspitzen zuckten. Es knisterte hörbar, alles in dem düsteren Raum war voller Elektrizität und Spannung. Plötzlich verwandelte sich die konturlose Masse im Gesicht der Wahrsagerin in eine scheußliche Fratze, die deutlich erkennbar E.s Gesichtszüge trug.

E. mußte alle Kraft zusammennehmen, um sich von dem entsetzlichen Anblick zu lösen. Er konzentrierte sich fest auf die Glaskugel. Die war nun durchsichtig, so, wie E. es sich immer vorgestellt hatte. Etwas Undeutliches, Verschwommenes wurde in der Kugel sichtbar, schien sich zu bewegen. Das Bild in der Kugel wurde schärfer, und schlagartig änderte sich die Farbe des von ihm ausgestrahlten Lichtes, es war nun blutrot wie der Vorhang über dem Eingang. E. wurde übel. Er sprang auf und stürzte aus dem Zelt.

"Es wird alles gut ausgehen!", rief die Wahrsagerin noch hinter E. her.

Gerade das hatte E. befürchtet.

[ Eniek Geschichten ]
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