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Glücksklee E. sucht das Glück

"Willst du immer weiter schweifen?
 Sieh', das Gute liegt so nah.
 Lerne nur, das Glück ergreifen:
 Denn das Glück ist immer da."

           (>Goethe<)
Eines unschönen Tages begab sich E. auf die Suche nach dem Glück. Sein erster Weg führte ihn schnurstracks zum Bücherschrank, in dem verschiedene Ausgaben des "Duden" und diverse Lexika seit Jahren ein ruhiges Leben führten. Buchrücken an Buchrücken standen sie friedlich und ungestört nebeneinander, setzten Staub an und vergilbten langsam.

E. beschloß, zuerst das besonders schwere, in ultramarinblau gefärbtes Leder gebundene "Siglochs Universal Lexikon" zu befragen. Erstens, weil es so bedeutend aussah, und zweitens, weil es eben ein "Universallexikon" war - und in einem solchen, nahm E. an, würde er am ehesten die Antwort auf besonders schwierige Fragen bekommen. (Darüber, daß die Frage nach dem Glück eine besonders schwierige Frage war, bestanden keine Zweifel.)

E. griff sich also den Band "A-M" und begann zu blättern. Er war fest davon überzeugt, daß ein solches Werk, die Leistung einer Jahrtausende alten menschlichen Kultur, die Verpflichtung hatte, ihm Fragen dieser Art zu beantworten. Schließlich schrieb ihm diese Kultur auch vor, wie er sich in eben dieser Kultur zu verhalten hatte. Zwischen "Glucke" und "glühen" wurde Eniek dann tatsächlich fündig. Das Ergebnis entsprach allerdings seinen Erwartungen überhaupt nicht. Er las:

"Glücksburg, Ostseeheilbad in Schl.-Ho., Flensb. Förde, 7400 E;
 Wasserschloß v. 1582, ehem. Resid. der Hzge von Ho.-Sonderburg-G.
 Glücksklee, echter Klee mit vierlappigen Blättern; auch
 Bezeichnung für vierblättrigen Sauerklee.
 Glücksspiel, Hasardspiel, Spiel, bei dem Entscheidung über Gewinn
 od. Verlust überwiegend vom Zufall abhängig ist. Nach StGB §
 284ff. strafbar: Öff. Veranstaltung v. G. ohne behördl.
 Erlaubnis, Beteiligung an solchen.
 Glückstadt, St. a. d. Elbe, Schl-Ho., 12000E; Jachtenbau, div.
 Ind.; AG; Autofähre; Hafen. - 1616-1814 dän. Festung."
Was sollte sich E. nun darunter vorstellen? Konnte man nur in Glücksburg glücklich sein? Mußte man täglich Glücksklee-Salat essen oder einen Tee aus Sauerklee trinken, um zu dem gewünschten Glücksgefühl zu kommen? War das Glück eine Art Spiel, das der Zufall entschied? Und wenn ja, mit wem mußte man dann spielen? Brauchte man für sein Glück eine behördliche Genehmigung? Wenn ja, wo bekam man die? Mußte man nach Glückstadt ziehen? Das war alles viel zu ungenau und zu verwirrend. E. pfefferte den Band "A-M" in die nächste Ecke.

Scheinbar war es gar nicht so leicht, festzustellen, was Glück war und wie man es bekommen konnte. Doch er hatte ja sein Pulver noch nicht verschossen. Er kam auf die Idee, daß Glück vielleicht etwas Ausländisches, Fremdes sein könnte, fand aber im "Duden-Fremdwörterbuch" keinerlei Hinweise darauf. Zweifelnd strich sich E. mit den Fingerspitzen über die Stirn. Zweifel! Das war es! Glück war etwas Zweifelhaftes - was lag also näher, als im Duden Nr. 9 nachzuschlagen, der den Titel "Die Zweifelsfälle der deutschen Sprache" trug.

Nach dem Wort "Glosse" stieß E. darin auch prompt auf folgendes: "Glücksache/Glückssache: Im heutigen Sprachgebrauch wird im allgemeinen die Form mit Fugen-s (Glückssache) verwendet." Dann folgte schon das Paar "Glühbirne/Glühlampe". E.'s Birne glühte mittlerweile auch schon, vor lauter Eifer und Ungeduld. Was sollte das nun wieder? Wollte ihn jemand auf den Arm nehmen? Was war ein "Fugen-s"? Er hatte noch nie gehört, daß man zum Glück ein "Fugen-s" benötigen würde. Seine Verwirrung wuchs. Es blieb ihm nur noch der Duden Nr. 1, in dem es um die Rechtschreibung ging. Zwischen "Gluckhenne" und "Glucose" stand:

"glücklich; glücklicherweise; glücklos; -este; Glücksache 
(seltener für: Glückssache; vgl. d.);
 Glücksbringer, ...bude;
 glückselig; Glückseligkeit die; -, (selten:) -en
 glucksen; du gluckst (glucksest)
 Glücksfall der, ...fee, ...gefühl, ...käfer, ...kind, ...pfennig,
 ...pilz, ...rad, ...ritter, ...sache, ...(die;-), ...schwein,
 ...spiel, ...stern, (der;-s), ...strähne, (die;-), ...tag;
 glückstrahlend (R 209);
 Glückstreffer, ...umstand, ...zahl,; glückverheißend (R 209);
 Glückwunsch; Glückwunschtelegramm; Glück zu!; Glück zu das;-"
Gestatten Herr Rossi (Bruno Buzzetto)

Herr Rossi und sein Hund Gastone (Bruno Buzzetto)

E. war dem Wahnsinn nahe. Er sah Sternchen - leider keine Glückssterne. Um zu erfahren, was Glück war, mußte man wohl schon ziemlich viel Glück haben. Da gab es Glücksbringer - ihm hatte noch niemand Glück gebracht, nicht einmal der Postbote. Was sollte er mit Schweinen und Rittern anfangen, und überhaupt: wo in aller Welt sollte er in diesem Jahrhundert noch einen Ritter auftreiben? E. wünschte sich das Glück - aber wem sollte er ein Glückwunschtelegramm senden? War das Glück wirklich zu, also geschlossen, unzugänglich? Den Wunsch zum Glück hatte er, wie gesagt, doch deswegen fehlte ihm immer noch das Glück. Was hatte das Glück damit zu tun, wenn er vor sich hinglucksen würde? Lächerlich! Und erst, sich das Glück als Käfer vorzustellen! Brrrr! E. mochte das ganze Krabbelzeug nicht leiden.

Also mußte sich E. etwas anderes überlegen, wenn er in dieser Sache weiterkommen wollte. Vielleicht sollte er einmal bei den Philosophen nachschlagen, die hatten doch für alles ihre sogenannten "Realdefinitionen". Das hatte aber einen kleinen Haken: Die Philosophen legten die Wirklichkeit aus, sie konnten sie aber nicht bestimmen. E. beschloß folglich, doch besser die Finger von diesen Wahrheitsexegeten zu lassen. Trotzdem: er mußte weiterkommen, weiterkommen, weiterkommen! Sollte E. Hermann Hesse glauben, der sagte: "Glück kann man nur besitzen, solange man es nicht sieht."? Aber - dann besäße er, E., das Glück ja schon, und müßte aufhören, danach zu suchen, dürfte es gar nicht finden, um es nicht zu verlieren. Nein, so einfach konnte, durfte es einfach nicht sein.

Und wer zum Teufels namen war eigentlich "Herr Rossi"????

E. wußte nicht mehr ein noch aus. Nirgends konnte er Halt finden. Selbst auf die Dichter war in diesem Fall kein Verlaß. Schrieb von Haller "Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist; Zu glücklich, wann sie noch die äußre Schale weist.", so antwortete Goethe darauf:

"Ins Innre der Natur
 Dringt kein erschaffner Geist,
 Glückselig! wem sie nur
 Die äußre Schale weist.-"
Was nun? Wie sollte E. das Problem in den Griff bekommen? Am liebsten würde sich E. in dieser Situation Freud in die Arme werfen, der meinte:
"Das Glück in jenem gemäßigten Sinn, in dem es als möglich erkannt wird, ist ein Problem der individuellen Libidoökonomie.". Und weiter: "Das Glück ist aber etwas durchaus Subjektives."

Leider weiß E. nicht, was eine "Libidoökonomie" ist, und ihm kommt alles nicht nur subjektiv, sondern sogar Spanisch vor. Er hat das Gefühl, daß es ihm gleich den Kopf zerreißen wird, daß er ein- für allemal den Verstand verlieren könnte.

Wir würden E. zum Trost gerne aus "Emilia Galotti", (4,7), zitieren und möchten ihm zurufen: "Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren." - doch leider, leider (leider?) kann E. dieses Wort Lessings mitnichten aus unseren Mündern hören, und schrien wir auch noch so laut ...

Nein, E. sitzt auf dem Zimmerfußboden, er kauert sich zusammen, macht sich ganz klein, würde am liebsten in ein Mauseloch kriechen, verschwinden, die Gedanken abstellen wie viel zu schwere, gleich aus den Nähten platzende, prallgefüllte Einkaufstüten, oder die Gedanken abstellen in einem anderen Sinne, sie abstellen wie einen laufenden Automotor, doch kann er den Schalter, den Schlüssel nicht finden, kann überhauptnichts finden, und seine Kopfschmerzen werden stärker und quälender, der Begriff "Glück" bohrt sich in sein Hirn, durchflutet alle Gehirnwindungen, überflutet alles ...

Und E. weiß! Und E. geht. Manche müssen immer suchen - DAS ist ihr Glück.

Und E. geht. Er geht, geht hinaus, nicht um das Glück zu suchen, sondern um es zu finden, von der Straße aufzuheben wie eine weggeworfene, leere, zerbeulte Bierdose.

Was bleibt? Das Gefühl, daß E. das Glück finden wird. Weil er es finden WILL!

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[ Eniek Geschichten ]
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